Eine schwierige Spurensuche: Die Familie Scharafinowitsch – Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg

Jakob Scharafinowitsch, so gibt die internationale Suchbehörde an, liegt in Grab Nr. 3, Station Polonais (A/II/1), Lebach, Teil C begraben. Er wurde am 21.7.1945 dort beigesetzt, auf der heutigen Kriegsgräberstätte, damals noch „Ehrenfriedhof“, kurz nach Kriegsende. Er ist einer von vielen dort bestatteten Zwangsarbeitern und ehemaligen Zwangsarbeitern bis ins Jahr 1947 hinein, darunter etliche Säuglinge, die im UNRRA-Lager geboren wurden, das die ehemaligen Zwangsarbeiter nach Kriegsende bis zu deren Heimkehr zusammenfasste. Versucht man, dem Schicksal eines Einzelnen nachzuspüren, ist man zunächst auf amtliche Dokumente angewiesen. Doch Namen und Ortsangaben lassen Hintergrundrecherchen zu.

Jakob S. konnte nicht schreiben und nicht lesen. Er verstand kein Deutsch. Dokumente zu seiner Zwangsarbeit bei reichsdeutschen Behörden unterzeichnete er mit drei zitterigen Kreuzen mit Bleistift, die belegen, dass er wohl nur selten einen Stift in der Hand hielt. Diese „Unterschrift“ wurde dann von den jeweiligen Beamten beglaubigt. Er konnte folglich die über ihn notierten Angaben nicht überprüfen. Ob sie richtig aufgezeichnet wurden, hing von der sprachlichen Kooperation mit den Beamten ab und von deren Sprachkenntnissen – womöglich war das eine oder andere Mal jemand zugegen, der dolmetschte.

Entsprechend sind die Angaben über seine Person nicht eindeutig. Geboren wurde Jakob S. 1876 in Romaschkowo, Kreis Kostopol in Polen – oder in Rowny in Sowjetrussland? oder im altsowjetrussischen Gebiet? Hier hilft die Recherche weiter. Kostopol, heute Kostopil, ist eine westukrainische Stadt, etwa 30 km entfernt von Riwne, das auf polnisch Rowne heißt, am Fluss Ustja. 

Riwne gehörte seit 1921 zu Polen, war aber während der russischen Revolution von deutschen, ukrainischen, russischen, bolschewistischen und polnischen Truppen zeitweise kontrolliert worden- Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde es als Folge des Hitler-Stalin-Pakts Teil der ukrainischen Sowjetrepublik. 1941 wurde es von deutschen Truppen erobert und dem Reichkommissariat Ukraine zugeordnet. Etwa 50% der Einwohner waren Juden, die bis 1942 ermordet wurden. 1944 wurde die Stadt von der Sowjetarmee befreit und anschließend wieder Teil der ukrainischen Sowjetrepublik. Seit 1991 gehört sie zur Ukraine.

 

Hieß er mit Nachnamen Scharafinowitsch, wie es die deutschen Behörden verbesserten, oder Szerafinowicz, wie es ein Beamter beglaubigte, oder Serafinowitz, wie es die internationale Behörde nach Kriegsende festhielt? Sprach er russisch oder polnisch?

 

Die Recherche ergibt, dass der Nachname Serafinowicz überwiegend polnisch ist und bis in die Ukraine verbreitet.

 

Jakob S. wurde zusammen mit seiner Familie  im Juli 1943 ins Deutsche Reich deportiert, als Landarbeiter – oder war er Bauer, wie die Behörde 1944 notierte? 

Jüdische Bauern im Bezirk Rosny im Zweiten Weltkrieg

 

https://www.yadvashem.org/yv/de/exhibitions/righteous/gerasimchik.asp

 

 

 

Zu dieser Zeit ist er 67 Jahre alt und verwitwet. Seine Eltern sind Klemens Scharafinowitsch, der bereits verstorben ist, und Dolfilic Tscheneska. Mit seiner verstorbenen Frau Eva, geborene Dawidowitsch aus Otchore, hat er zwei Kinder, den 1893 geborenen Ludwig und die 1911 geborene Stanislawa, jetzt 40 und 32 Jahre alt. Beide sind in seiner Begleitung o der eher umgekehrt, er, der alte Vater, lebt bei seiner Familie und wir mit ihnen deportiert. Jakob, Stanislawa, Ludwig und dessen gesamte Familie sind nun im Deutschen Reich: Seine Frau, die 37jährige Pawlina, geborene Lustschinskaja, die aus Lade stammt, und die drei kleinen Kinder, die zehnjährige Helena, die vierjährige Regina und die zweijährige Eva. Als Religionszugehörigkeit wird für Jakob pauschal „orthodox“ vermerkt.

 

Im Deutschen Reich wird die ganze Familie zunächst ab dem 16. Juli für einige Wochen ins Durchgangslager Kelsterbach gesteckt.

 

Kelsterbach, eine hessische Stadt nahe des Frankfurter Flughafens, hatte von 1941 bis 1945 ein Durchgangslager für Zwangsarbeiter, überwiegend aus dem Osten (Ostarbeiter), das daher im Volksmund als „Russenlager“ bezeichnet wurde. Es fand sich auf dem Gelände eines ehemaligen RAD-Lagers nahe der heutigen Autobahn, inzwischen ein Gewerbegebiet. Recherchen, auch von Schülergruppen, haben ergeben, dass rund 214 Menschen im Durchgangslager starben darunter auffällig viele Kleinkinder, 68 unter zwei Jahre alt. Seit Herbst 1943 wurden nämlich immer wieder medizinische Versuche mit ihnen angestellt, an denen sie starben. Sie erhielten tödliche Injektionen im Bereich der Wirbelsäule. Die Belegstärke des Lagers war mit 2000 bis 5000 Menschen angegeben. Bei der Befreiung durch die Amerikaner waren ca. 3000 Menschen dort. In der Regel blieben sie nur wenige Tage, bevor sie auf die Betriebe verteilt wurden. Es war die Regel, dass ganze Familien, viele mit kleinen Kindern, dorthin deportiert wurden. Die Unterlagen zum Lager sind überwiegend vernichtet. Bekannt ist jedoch, dass dort schwangere Zwangsarbeiterinnen unter unwürdigen Bedingungen in der Nähe der TBC-Baracken entbinden mussten und dass es zu Zwangsabteibungen bis zum 5. Monat kam, damit die Arbeitskraft der Frauen nicht durch Säuglinge belastet wurde. Heute erinnern Tafeln und eine Publikationen das Geschehen in und um die Stadt. 

Dort blieben sie nur wenige Tage. Dann kommt die gesamte Familie am 5. August 1943 auf den Hessler-Hof in Mainz- Amöneburg. Jakob wird als Landarbeiter geführt, als Zwangsarbeiter, als Ostarbeiter. Sie unterstand der Dyckerhoffschen Gutsverwaltung. Die Familie ist zusammengeblieben. Trotzdem werden sie von Schicksalsschlägen nicht verschont. Die kleine Eva stirbt am 29. Februar 1944 im städtischen Krankenhaus Mainz und wird auf dem Waldfriedhof Mainz- Mombach beigesetzt. Davor war sie, ob allein oder mit Familienangehörigen, im Lager Dyckerhoff untergebracht.

Jakob S. bleibt nicht ganz ein Jahr dort. Am 20. Mai 1944 wird er, wiederum mit der gesamten Familie, verlegt. Mit 68 Jahren kommt er in den Kreis Alzey in Rheinhessen auf ein Weingut. Dort wird er als Ostarbeiter mit ungeklärter Staatsangehörigkeit geführt, als „Ostarbeiter aus den besetzten Ostgebieten“. Er erhält 25,- RM Monatslohn und Sachleistungen. Es geht ihm nicht gut. Am 4. Und 5. Juni 1944 ist er in einer Heil – und Pflegeanstalt untergebracht. Das kostet 8,50,- RM, die womöglich von der Krankenversicherung übernommen wird, bei der die Familie bis zum 21. Juni 1945 zwangs-versichert war. 

Die letzte Meldung von Jakob S. ist die der internationalen Behörden über sein Grab in Lebach. Wie er dorthin kam, woran er starb, was aus der Familie wurde – es bleibt im Dunkeln.

Gedenkstein für die Opfer des Faschismus auf dem Waldfriedhof in Mainz-Mombach bei der Einweihung am 1. August 1948, rechts oben mit dem »Winkel« der KZ-Häftlinge und dem Schriftzug »VVN«.

 

http://www.lagrlp.de/index.php/informationen/185-erinnerung-an-die-errichtung-des-mahnmals-fuer-die-opfer-des-faschismus-vor-70-jahren-auf-dem-waldfriedhof-in-mainz-mombach

 

Recherche und Text: Dr. Eva Kell – Johannes-Kepler-Gymnasium Lebach